Dienstag, 17. Januar 2012

Tag 109: Der Schein der Dinge.

Es waren einmal ein Reisender, sein Pferd, und sein Hund.

Sie beschritten im Sommer eine Straße, und am Abend machten sie Rast unter einem Baum. Da es aber in der Nacht gewitterte, wurde der Baum vom Blitz getroffen. Der Reisende und seine Tiere wurden dadurch getötet.

Nun wussten der Reisende und seine Gefährten nicht, dass sie tot waren, und so ging es am nächsten Tag in gewohnter Manier im Morgengrauen weiter.

Die Straße wurde steiler, die Sonne brannte unendlich heiß, und alle drei schwitzen und waren durstig.
An einer Kurve entdeckte der Mann jedoch in einiger Entfernung ein wunderschön gearbeiteten Torbogen aus Marmor am Straßenrand.

Dahinter lag auf einem Gold gepflasterten Platz ein riesiger Springbrunnen, aus dem kristallklares Wasser sprudelte, welches fast über den Rand schwappte.

Die Wanderer gingen hinüber zu der Wache am Eingang.

"Guten Morgen", sagte der Reisende.

- "Guten Morgen", erwiderte die Wache.

"Was ist das hier für ein schöner Ort?"

- "Dies ist der Himmel."

"Nun, darüber bin ich sehr froh, denn ich und meine Tiere sind schrecklich durstig!", rief der Mann aus.

- "Du bist herzlich eingeladen, so viel Wasser zu trinken wie du willst.", sagte die Wache, und deutete auf den Springbrunnen.

"Mein Pferd und mein Hund sind aber auch durstig."

- "Ich bin untröstlich", antwortete die Wache, "aber Tiere sind hier nicht erlaubt."

Darüber war der Reisende sehr enttäuscht, denn er war nicht bereit, alleine zu trinken.
Dennoch dankte er der Wache, nahm seine Tiere und setzte seinen Weg fort.

Äußerst erschöpft erreichten sie nach einem langen Marsch bergauf ein altes Tor, dass sich nach einen staubigen mit Bäumen gesäumten Pfad abseits des Weges öffnete.

Ein älterer Mann, mit abgetragenen und schmutzigen Kleidern lag, offensichtlich schlafend, in dem Schatten einer der Bäume, seinen Hut über die Augen gezogen.

"Guten Morgen", sagte der Reisende.

Der andere Mann grüßte mit einem Nicken.

"Wir sind durstig, ich, mein Pferd und mein Hund."

- "Da drüben zwischen den Steinen ist eine Quelle. Ihr könnt so viel trinken wie ihr wollt."

Der Reisende, sein Pferd und sein Hund ließen sich an der Quelle nieder und stillten ihren quälenden Durst.
Daraufhin kehrte der Wanderer noch einmal zurück, um dem Mann am Tor zu danken.

- "Kommt wieder, wann immer ihr möchtet", sagte der Alte.

"Übrigens, was ist das hier eigentlich für ein Ort?", fragte der Reisende, bevor er sich mit seinen Tieren auf den Weg machte.

- "Der Himmel."

"Was? Das kann ja unmöglich sein. Der Wächter da drüben am Mamorbogen hat mir gesagt, das da drüben sei der Himmel!"

- "Das ist nicht der Himmel", antwortete der Alte, "das dort ist die Hölle, mein Freund."

"Wie bitte? Du solltest mal darauf aufpassen, dass andere den Namen deines Ortes nicht fälschlicherweise gebrauchen, alter Mann! Das führt nur zu Verwirrung!", rief der Reisende etwas verärgert.

- "Im Gegenteil, die Verwirrung ist in diesem Fall nicht schlecht.
    Denn jene die dort geblieben sind, haben sich dazu fähig gezeigt, ihre liebsten Freunde im Stich zu lassen."



Aus: "The Devil and Miss Prym" von Paulo Coelho. (2001)

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